„Ich bin mit Leidenschaft parteiisch für die Kultur“

Claudia Roth im Interview

Kulturstaatsministerin Roth sprach mit Moritz Rinke und Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel über ihr Engagement für die Kunstfreiheit, Green Culture und einen neuen Ansatz in der Erinnerungsarbeit. Weitere Themen waren die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und das Humboldt Forum.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Bundeskanzleramt

Kulturstaatsministerin Roth: „Ohne Kultur fehlt der Demokratie die Stimme.“

Quelle: picture-alliance/dpa/Michael Kappeler

Tagesspiegel: Frau Roth, Sie sind noch keine 100 Tage im Amt und es war auch kein einfacher Start in dieser Zeit. Sie können Ihr Anfangsprogramm wahrscheinlich nicht so zusammenstellen, wie Sie es vielleicht gerne würden. Wo waren Sie bisher, wo konnten Sie nicht hin?

Claudia Roth: Erst einmal war es ja ganz überraschend, dass ich als Kulturstaatsministerin überhaupt irgendwo hingehen konnte. (Lacht) Es war ja nun nicht gerade so, dass ich mein Leben darauf ausgerichtet hätte, hier in diesem Büro anzukommen. Ich war gewählte Vizepräsidentin des Bundestags. Das Amt der Kulturstaatsministerin war dann doch eine große Überraschung.

Irgendwann kam ein Anruf?

Ja, ich war ja im Verhandlungsteam dabei. Aber erst am Ende hieß es in der Ressortzuteilung, die Grünen bekämen Kultur und Medien. Na, und dann schauten alle zu mir. Ich hatte dann ein paar Stunden Zeit, um mir das zu überlegen. Für mich schließt sich mit diesem Amt ein Kreis, denn ich habe ja am Theater angefangen.

Und nun rufen alle an, Verbände, Museen, Kultur-Dezernenten?

Es kamen Waschkörbe an Post: Gratulationen, Einladungen und Erwartungen. Diese Schreiben haben mich darin bestätigt, wie ich dieses Amt ausrichten will – als Staatsministerin der Kultur und der Demokratie, beides gehört für mich zusammen. Seit ich dieses Amt angetreten habe, erlebe ich jeden Tag aufs Neue, wie reich, wie vielschichtig und vielfältig die Kultur in unserem Land eigentlich ist. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass wir diesen kulturellen Reichtum jederzeit verlieren können, wenn wir ihn nicht beschützen und bewahren, dass wir die kulturelle Vielfalt stärken und fördern müssen.

Sie nennen immer Kultur und Demokratie in einem Atemzug. Im Koalitionsvertrag ist auch die Absicht verankert, Kultur zum „Staatsziel“ zu machen. Inwieweit darf denn der Staat in die Kultur eingreifen und gestalten?

Ohne Kultur fehlt der Demokratie die Stimme. Ich glaube, dass Kultur diese Gesellschaft in all ihrer Vielfalt zusammenhält. Hier zum Beispiel dieses typische türkische Rot von Mehmet Güler auf dem Bild an meiner Wand: Güler lebt schon lange in Kassel und hat gesagt, dass er sich nun, wo seine Bilder im Kanzleramt hängen, endlich diesem Land zugehörig fühlt. Für mich ist die Kunst- und die Kulturfreiheit immer auch ein Gradmesser für die Stärke einer Demokratie. Wie ist es in anderen Ländern? In der Türkei sitzt der Kulturförderer und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala im Gefängnis, viele Künstlerinnen und Künster und Publizistinnen und Publizisten ebenfalls. Und wer wird nicht alles in Belarus, Russland oder China inhaftiert? Die Kunstfreiheit wie eine Löwin zu verteidigen, das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben. Gerade auch dann, wenn Politiker gewisser Parteien sich freuten, als alle Goethe-Institute wegen COVID geschlossen waren, weil dann endlich wieder deutsche Kultur gemacht werden könne.

Ebenfalls geht aus dem Koalitionsvertrag hervor, dass der Akzent von der Hochkultur und den großen Institutionen in die Fläche verschoben werden soll. "von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen", heißt es wörtlich. Gibt es eine grüne Kulturpolitik?

Ich bin mit Leidenschaft parteiisch für die Kultur, für die Kultur in all ihrer Vielfalt. Aber grüne Themen spielen natürlich auch in der Kulturpolitik eine wichtige Rolle. Wir haben als Klimaregierung die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz in allen Ressorts des Koalitionsvertrags verankert. In meinem Haus werden wir zum Beispiel eine Anlaufstelle Green Culture einrichten, mit der wir die Kulturszene ermutigen und ermächtigen wollen, klima- und umweltgerechter zu arbeiten. Dafür wollen wir politisch die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, damit auch die Kulturbetriebe zukunftsfähig bleiben.

Sie sprechen da auch vom Museum des 20. Jahrhunderts, das 2026 fertiggestellt werden soll?

Gerade bei solchen Planungen kann und sollte der Bund eingreifen, was die neuen Kriterien der Nachhaltigkeit betrifft. Ich setze aber auch andere Schwerpunkte in der Kulturpolitik: auf Erinnerungskultur und Dekolonialisierung, das war ja bisher vor allem ein Expert*innenthema. Auch die Frage, wie wir die Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft gestalten, ist mir sehr wichtig. Auch unsere Erinnerungskultur Ost und West müssen wir zusammenführen. Ein weiterer mir wichtiger Komplex sind die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Diversität.

Aber gerade in der Kultur passiert da doch schon viel. Oder ist das vielleicht nur eine Innensicht von Kulturleuten in Berlin, wo es das Gorki-Theater gibt, das HAU, die Berlinale?

Ich nenne als Beispiel oft das deutsch-türkische Filmfest in Nürnberg, ein tolles Festival, aber noch viel zu wenig bekannt. Wie viele Moritze und Claudias gehen dort hin? Fast keine, das ist wie eine Mauer. Oder nehmen Sie die vielen Jurys im Kulturbereich – bildet sich in ihnen etwa unsere vielfältige Gesellschaft ab? Wohl kaum. Ein großes Problem ist auch der Gender-Pay-Gap, der ist in vielen Kultureinrichtungen oder der Filmbranche wirklich dramatisch. Da muss endlich etwas passieren!

Aber der Pay-Gap betrifft in Kulturinstitutionen ja nicht nur Frauen, sondern Mitarbeiter wie Mitarbeiterinnen. Gerade am Theater gibt es geradezu bizarre Unterschiede an Gehältern. Und wenn Sie für Teilhabe plädieren: Gerade deutsche Kulturinstitute geben doch oft ein Bild ab mit geradezu feudalistischen Machtstrukturen, in denen einer oder eine alles entscheidet, subjektiv, ohne Absicherung oder Überprüfung durch andere. Und da gibt ja nun auch einige Beispiele, die durch die Medien gingen.

Als Kulturstaatsministerin kann ich natürlich nicht in die Theater hineinregieren, Stichwort Kunstfreiheit! Aber über Mindestgagen, über das Ende des Patriarchats sollte man sprechen.

Wir meinten eher grundsätzlich die Strukturen an Theater oder klassischen Kultureinrichtungen. Würde es nicht zum „Staatsziel Kultur“ gehören, diese Einrichtungen auch nach innen hin etwas menschenfreundlicher zu gestalten bzw. als Kulturstaatsministerin eine Debatte darüber zu führen?

Diese Debatte sollten wir führen. Wie sollen Kultureinrichtungen heute aussehen, welche Strukturen sollen sie haben? Und das betrifft eben auch die Theater, die müssen sich da anschließen.

Sie hatten die Gefährdung der Kultur durch die Pandemie angesprochen. Ist es jetzt umso wichtiger, nicht nur die Kulturinstitutionen im Blick zu haben, sondern auch die freien Künstler, die teilweise diese Institutionen auf unterschiedliche Weisen bespielen, aber in der Pandemie eben nicht durch Kurzarbeitergeld abgesichert waren?

Eine ganz zentrale Aufgabe ist es, daran zu arbeiten, dass sich diese Spaltung zwischen freien und in Institutionen arbeitenden Künstler*innen nicht verschärft. Das hat auch Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters, gesagt: die Philharmoniker, die großen Theater werden nicht wegbrechen, aber die freien Künstler*innen und Veranstalter*innen sind stark gefährdet.

Ja, und genau die mussten sich anfangs durch abenteuerliche FAQ´s von Coronahilfen kämpfen, sie teilweise wieder zurückzahlen, weil sie als im Nachhinein als Deckung von Betriebskosten, nicht aber für die Lebenshaltungskosten verwendet werden durften. Am Ende mussten Künstler*innen Kredite aufnehmen, um Coronahilfen zurückzuzahlen bzw. sie sollten Hartz beantragen. Und wenn sie auch dafür nicht berechtigt waren, wie selbstverständlich von ihrer Altersversorgung leben. Müssen da nicht Bundesregierung oder der Bundeskulturrat dringend etwas tun?

Da wurden viele Fehler gemacht. Zum Teil herrschte am Anfang eine große Unkenntnis, wie die künstlerische Lebens- und Arbeitsrealitäten überhaupt aussehen, das habe ich auch in einigen Debatten im Bundestag erlebt. Zu mir kamen Schauspielerinnen und Musiker und waren erbost, dass man ihnen Hartz IV ans Herz legte. Sie sagten, wir sind gar nicht arbeitslos, wir dürfen nur nicht arbeiten! Angeblich soll ein Jobcenter einem Geiger sogar empfohlen haben, seine Geige zu verkaufen, weil die so wertvoll sei.

In dem Fall ging es um einen Musiker, der den Zugang zur Grundsicherung beantragte, dafür aber wegen der Geige als zu „vermögend" galt.

Nun haben wir die Hilfen aus dem Programm NEUSTART KULTUR, die schon von meiner Vorgängerin Monika Grütters aufgesetzt worden sind. 74 Einzelprogramme decken dabei ganz unterschiedliche Bereiche des Kulturlebens ab. Rückzahlungen fallen hier grundsätzlich nicht an, weil Geld für konkrete Vorhaben und Produktionen ausgezahlt wird und nicht rückwirkend Einnahmeausfälle ausgeglichen werden. Rückforderungen sind deshalb vor allem ein Problem bei den vom Wirtschaftsministerium administrierten Überbrückungs- und Neustarthilfen. Hier werden die Bedingungen für Rückzahlungen – auch auf Drängen meines Hauses – derzeit noch einmal überprüft. Wir führen aktuell auch Gespräche über Mindesthonorierungen und prüfen, ob und wie wir diese in die Förderrichtlinien des Bundes aufnehmen können. Um Kreative und Kulturschaffende besser sozial abzusichern, möchten wir auch die Künstlersozialkasse stabilisieren. Da geht es zum Beispiel darum, die erhöhte Zuverdienstgrenze dauerhaft zu erhalten. Das bedeutet: Wir wollen die Möglichkeiten für Kreative und Künstler*innen verbessern, Einkünfte aus nicht-künstlerischer selbständiger Arbeit zu erzielen. Über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Kulturschaffende sind wir schon mit Arbeitsminister Hubertus Heil im Gespräch.

Die oder der BKM wurde ja mit Beginn der Schröder-Regierung eingeführt und auch hier im Kanzleramt mit Michael Naumann verortet, um zu zeigen, dass Kultur wichtig ist. Haben Sie denn den neuen Kanzler an ihrer Seite? Er sitzt ein Stockwerk unter ihnen.

Bisher ja. Ich kenne ihn ja schon lange. Es ist auch bei uns die gemeinsame Überzeugung spürbar, Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik. Das bedeutet für mich auch einen Aufbruch in die Wirklichkeit unserer Einwanderungsgesellschaft. Wenn man aus Bayern kommt wie ich, dann wurde einem ja eingebläut, dass wir kein Einwanderungsland seien. Das war schon fast eine Realitätsverweigerung. Nein, diese Gesellschaft der Vielen findet sich in unserem Koalitionsvertag überall wieder, da wird diese Bundesregierung viel ändern.

Klingt alles wunderschön, aber es gibt auch noch große Brocken: Humboldt Forum, neues Museum, Preußen-Stiftung. Gerade das Humboldt Forum sollte ja immer zeigen, wie offen dieses Land ist …

Da sind Dinge passiert, die diesem Eindruck eher zuwiderlaufen. Wir müssen uns dringend zusammensetzen, um zu schauen, wie das Humboldt Forum wirklich ein Ort der Weltoffenheit werden kann. Deshalb ist mir auch schleierhaft, wie man so eine Kuppelinschrift machen kann …

Es handelt sich um ein historisches Zitat, dass Friedrich Wilhelm IV. selbst aus mehreren Bibelversen zusammensetzte und als christlicher Unterwerfungsanspruch angesehen wird. Kritiker weisen darauf hin, dass mit dem Bibelspruch der Herrschaftsanspruch der Hohenzollern gegen demokratische Bestrebungen unterstrichen werden sollte.

Und dann setzt man auch noch ein Kreuz oben drauf als Beleg der großen Weltoffenheit. Also, da will ich ran.

Zurückbauen, das Kreuz wieder weg?

Wir müssen uns dringend darüber verständigen, wie das Humboldt Forum zu einem Ort der Weltoffenheit werden kann. Da gibt es viel Gesprächsbedarf.

Und die privaten Spenden aus dubiosen Quellen? Der Großspender Ehrhardt Bödecker etwa, bekannt durch antidemokratische, rechtsradikale Äußerungen. Muss Mäzenatentum für öffentliche Prestigebauten offengelegt werden?

Ja. Es muss transparent werden, anders geht es nicht.

Nächster Brocken: Stiftung Preußischer Kulturbesitz …

Da will ich alle Akteure an einen Tisch bringen, um den Reformprozess voranzutreiben. Was sind die großen Inhalte? Wie sieht ein Museum heute aus? Wie sind die Strukturen, wird es weniger hierarchisch? Es gibt aber auch Positives zu vermelden. Im Januar habe ich mich mit den Leitungen der deutschen Museen, in denen es Kulturgüter aus dem ehemaligen Königreich Benin gibt, bei einer Konferenz ausgetauscht.

Vorwiegend die Benin-Bronzen, die während er Kolonialzeit geraubt und auch nach Deutschland gelangt sind.

Am Ende waren 18 Museen dabei. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und andere Museen etwa in Hamburg, Köln und Stuttgart haben sich bereit erklärt, Objekte zurückzugeben. Wobei es von nigerianischer Seite übrigens den Wunsch gibt, diese Kunst auch in Zukunft hier auf würdevolle Weise auszustellen. Insgesamt hat sich eine neue Dynamik in der Zusammenarbeit deutscher und afrikanischer Museen ergeben. Das ist ein Neubeginn, den ich weiter begleiten möchte.

Der Blick auf die Kulturschaffenden in der Pandemie, die Green-Culture, das Staatsziel Kultur, die Strukturen in Kultureinrichtungen, der Pay-Gap, Gender, Humboldt Forum, der Blick nach Afrika … viel zu tun!

Ja, es gibt viel tun und ich freue mich drauf!


Das Gespräch führten Moritz Rinke und Rüdiger Schaper.