Am 30. April 1945 wurde das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück befreit. Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung nahm Kulturstaatsministerin Claudia Roth an der zentralen Gedenkveranstaltung der Mahn- und Gedenkstätte teil. Ihr Dank richtete sich insbesondere an die neun anwesenden Überlebenden, deren Erinnerungen von unschätzbarem Wert seien, so Roth.
Claudia Roth bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück.
- Es gilt das gesprochene Wort -
Mopsa Sternheim hat das KZ Ravensbrück überlebt – trotz allem, was sie hier erleiden, durchmachen und mit ansehen musste. Wie bei so vielen anderen Überlebenden blieben die tiefen Wunden aus dieser Zeit in der Hölle offen und schmerzhaft. Die Tochter des deutschen Dramatikers Carl Sternheim und seiner Frau Thea starb 1954 in Paris mit nicht einmal 50 Jahren, neun Jahre nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Ravensbrück.
Dorothea Sternheim, die in ihrer Familie und von ihren Freundinnen und Freunden nur „Mopsa“ gerufen wurde, war Bühnenbildnerin und Kostümbildnerin. Vor allem aber war sie Widerstandskämpferin, vor ihrer Verhaftung in der Résistance gegen die Nationalsozialisten und im KZ Ravensbrück, wohin sie von der Gestapo zusammen mit 958 Französinnen im Januar 1944 verschleppt worden war.
Sie setzte sich ein für an Typhus, Scharlach und Ruhr erkrankte Mitgefangene, die sie, unter Einsatz ihres Lebens, von der Deportationsliste strich und im Krankenblock im oberen Teil der Stockbetten versteckte. Für diesen Einsatz und für ihr widerständiges Auftreten gegenüber der SS hat sie mit zahllosen Demütigungen und übelsten Quälereien bezahlt.
Am 23. April 1945 wurde sie zusammen mit etwa siebentausend Frauen vom schwedischen Roten Kreuz im Rahmen der Aktion Bernadotte aus dem völlig überfüllten und immer chaotischeren Lager, in dem das Morden weiter und weiter und weiterging, im letzten Augenblick gerettet und nach Schweden gebracht. Sie hatte zwar überlebt, aber in den Alltag des Lebens konnte sie nie mehr zurückfinden. Als sie an Krebs erkrankte, notierte Mopsa Sternheim kurz vor ihrem Tod:
„Und trotz diesem Albtraum-Leben, das das meine ist seit so langer Zeit, / ist eine tiefe Bejahung oder sogar eine glühende Verehrung des ‚Lebens an sich‘ in mir.“ Des Lebens an sich in mir!
Dorothea „Mopsa“ Sternheim wäre am 10. Januar 120 Jahre alt geworden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir gedenken heute der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück vor 80 Jahren, wir gedenken der 120.000 Frauen, der 800 Kinder und der 20.000 Männer, die in dieses KZ verschleppt wurden, und wir trauern um 28.000 Menschen, die hier ermordet wurden und unter entsetzlichen Bedingungen gestorben sind.
Von unschätzbarem Wert für die Erinnerung daran, wie hier systematisch und mit bürokratischer Präzision schikaniert, gequält, gefoltert und gemordet wurde, sind die Zeitzeuginnen, diejenigen, die es erleiden und mitansehen mussten – und die bereit sind, und in der Lage sind, davon zu erzählen, darüber zu berichten. Die sogar bereit sind, dafür an diesen Ort des Verbrechens, der Schmerzen und Qualen zurückzukehren.
Es ist deshalb eine ganz besondere Ehre und eine ganz große Verantwortung für uns alle hier, dass heute neun Überlebende den Tag mitgestalten, die als Kinder und Jugendliche in das KZ Ravensbrück und seine Außenlager verschleppt wurden. Zwei von Ihnen, Jean-Claude Passerat und Ingelore Prochnow, wurden hier in Ravensbrück geboren. Und ich danke Ihnen, liebe Ingelore Prochnow, von ganzem Herzen, dass Sie gleich zu uns sprechen und uns von Ihren Erinnerungen, von Ihrem Leben, berichten werden. Ich danke Ihnen. Ich danke den Überlebenden und Angehörigen für ihren Mut, für ihre Kraft, für Ihr Vertrauen in uns, dass Sie und mit Ihrer Anwesenheit heute schenken.
Im Namen aller hier Versammelten versichere ich Ihnen: Wir brauchen Ihre Erinnerungen, wir brauchen die Erinnerungen der Überlebenden. Sie sollen nicht allein die Vergangenheit beschwören, sondern unsere Augen und Ohren und Herzen öffnen für die Gegenwart. Denn auch hier, fernab der großen Städte, in der Abgeschiedenheit und Stille des ländlichen Raums, melden sich die Geschichtsvergessenen heute wieder lautstark zu Wort. Überall sind sie, die Verkünder der Hassparolen, die von der Verehrung des „Lebens an sich“ nichts wissen wollen, weil sie sich der Anbetung der Gewalt, der Niedertracht, dem Rassismus, dem Antisemitismus verschrieben haben, weil sie Menschen in unterschiedliche Kategorien und Wertigkeiten packen wolle. Dem müssen wir Demokrat:innen, hier in Brandenburg wie überall, friedlich, doch sehr entschlossen entgegentreten, in Erinnerung an unsere Vergangenheit, an das, was hier geschehen ist.
„Unabhängig davon, ob wir nun zurück kehren oder nicht, muss doch die Geschichte der Polinnen in Ravensbrück und überhaupt die Geschichte des ganzen Lagers möglichst genau und in vollem Umfang an das Tageslicht gelangen, wahrhaftig und unverfälscht.“ Das schrieb Zofia Pociłowska am 09. Oktober 1943. Eine der Nachrichten, die von den polnischen Häftlingen nach draußen geschmuggelt wurden.
Auch deshalb ist der Sammlungsaufruf wichtig, den die Gedenkstätte anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung gestartet hat. In ihm heißt es: „Jedes Objekt oder Dokument, ob Original oder Kopie, ist von großem Wert, um das Verständnis für die Geschichte von Ravensbrück zu vertiefen und das Gedenken an die Opfer aufrechtzuerhalten.“ Denn die Geschichte von Ravensbrück muss erzählt werden und es muss seinen Opfern gedacht werden.
Wir brauchen diese Erinnerung als aktives Erinnern für die Zukunft, für die Zukunft unserer Demokratie und für eine Gesellschaft, zu der Vielfalt gehört – wie der Respekt sowie die Anerkennung der Unterschiedlichkeit. Eine demokratische Gesellschaft, für die der unbedingte Schutz der Würde des Menschen unser verpflichtender Imperativ ist, der ohne Wenn und Aber für wirklich ALLE Menschen gleichermaßen gilt.
Genauso wie es im allerschönsten Satz, den es gibt, dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht ja nicht die Würde des männlichen Menschen, des deutschen, des heterosexuellen, des christlichen, des weißen, des nichtbehinderten, des jungen – da steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen. Und dafür müssen wir kämpfen, jeden Tag, um diesen Satz zum Strahlen zu bringen.
Genau das tun sie jetzt hier auch mit ihrer so wichtigen Arbeit, das ganze Team, die Frauen und Männer in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Ich bedanke mich bei den angereisten Überlebenden des KZ Ravensbrück und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte um Andrea Genest für ihren Einsatz für unsere Erinnerungskultur. Sie alle leisten eine für unsere Demokratie unendlich wertvolle Arbeit! Denn auch unsere Demokratie ist nicht immun. Sie wird angegriffen von Demokratiefeinden und Rechtsstaatsverächtern von einer rechtsextremen Partei. Wir müssen die Demokratie verteidigen, beschützen und stärken. Die Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten, sie braucht jeden und jede von uns.