80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg

Rede

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat an der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg teilgenommen. Beim Gedenkakt sagte sie: „80 Jahre nach Kriegsende ist es nicht immer noch, sondern mehr denn je notwendig, die Erinnerung wachzuhalten.“ Demokratie und ein Leben in Freiheit seien keine Selbstverständlichkeit. „Sie müssen Tag für Tag aufs Neue verteidigt werden.“ Außerdem dankte sie der Gedenkstätte Flossenbürg für die hervorragende und engagierte Arbeit.

Claudia Roth hält ein Grußwort bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg.

Claudia Roth bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg.

Quelle: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Thomas Dashuber

- Es gilt das gesprochene Wort -

Wenige Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg vor 80 Jahren ist hier Dietrich Bonhoeffer ermordet worden. Als ich meine Rede vorbereitet und noch einmal Texte des großen Theologen und mutigen Widerstandskämpfers gelesen habe, bin ich auf folgenden Satz gestoßen, den ich gern zitieren möchte: 
„Das christliche Verhältnis zwischen dem Starken und dem Schwachen ist, dass der Starke zu dem Schwachen aufsehen und niemals herunterschauen soll.“ 

Das ist ein Satz von ungeheurer Wucht, der ultimative Widerspruch zu der Wirklichkeit, in der sich Bonhoeffer und alle Insassen der deutschen Konzentrationslager damals befanden. Das Herunterschauen auf die – vermeintlich – Schwachen, die Jüdinnen und Juden, die Homosexuellen, die Sinti und Roma, die so genannten „Asozialen“, die sogenannten „Berufsverbrecher“, die geistig und körperlich Behinderten, die Zwangsarbeiter:innen, die politischen Gegner:innen: Das Herunterschauen auf sie gehörte im NS-Staat zur geistigen Grundausstattung.
Es ist klar, warum mich die Forderung Bonhoeffers so gefesselt hat. Denn sie hat bis heute von ihrer Aktualität gar nichts eingebüßt. Lesen wir Bonhoeffer, hören wir seinen Aufruf zur Humanität, dann spricht zu uns ein Zeitgenosse.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich bedanke mich herzlich für die Einladung, heute mit Ihnen zusammen des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg zu gedenken. Im Namen der Bundesregierung, aber auch ganz persönlich, begrüße ich ganz besonders herzlich die heute anwesenden Überlebenden und alle Familienangehörigen der Opfer des Konzentrationslagers. Es bewegt mich sehr, dass Sie die schwere Reise auf sich genommen haben und an einen Ort zurückgekehrt sind, der untrennbar mit dem fürchterlichen Leid verbunden ist, das das nationalsozialistische Deutschland Ihnen und Ihren Angehörigen angetan hat. Zugleich erfüllt es mich mit tiefer Trauer, dieses Leid nicht ungeschehen machen zu können. 

Umso mehr danke ich Ihnen, dass Sie die Kraft und die menschliche Größe haben, diese Gedenkfeier mit uns zu begehen und durch Ihr Dasein, durch Ihr ganzes Wirken dazu beizutragen, dass wir aus der Geschichte lernen und uns unserer Verantwortung stellen. Die Verantwortung, die Demokratie in unserem Land zu bewahren, zu verteidigen und zu verstärken. Denn die Demokratie ist nicht immun. Auch nicht bei uns. Die Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten, die für sie einstehen. 80 Jahre nach Kriegsende ist es nicht immer noch, sondern mehr denn je notwendig, die Erinnerung wachzuhalten.

Weltweit, auch in Europa, auch in Deutschland erleben wir Hass und Hetze, verhindern und zerstören Hassparolen auf Straßen und in Parlamenten den Dialog oder das vernünftige Gespräch, völkische Ideologen führen das große Wort und versuchen Mahner zum Schweigen zu bringen, die abschätzige Bewertung von Menschen und Menschengruppen gehört offenbar wieder zum guten Ton. Die davon betroffenen Menschen haben Angst. Das alles macht uns klar, dass die liberale Demokratie und ein Leben in Freiheit keine Selbstverständlichkeit sind. Sie müssen Tag für Tag aufs Neue verteidigt werden. Im Sinne unseres moralischen Imperativs, im Sinne des allerschönsten Satzes, den es gibt. Und das ist unser Artikel eins des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und da steht nicht die Würde des deutschen Menschen, des männlichen, des christlichen, des heterosexuellen, des Nicht-Behinderten. Da steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jedes Menschen. Und das muss unsere Aufgabe sein, jeden Tag diesen Satz zum Strahlen zu bringen.

Wenn ein führender Rechtsextremist in Deutschland eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ verlangt, dann verhöhnt er nicht nur Bonhoeffers Ermahnung, nicht auf die Schwachen herunterzuschauen, er beleidigt damit Bonhoeffer selbst und alle Mordopfer in den deutschen Konzentrationslagern.

Die Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Vorfälle, die Zunahme von Vandalismus, mutwilliger Zerstörungen auf jüdischen Friedhöfen, in Synagogen, Mahnmalen, Gedenkstätten, und Hakenkreuzschmierereien wie vor wenigen Tagen bei einer Wanderausstellung der Arolsen Archives im thüringischen Ohrdruf, wo sich ein Außenlager des KZ-Buchenwald befand, sind erschreckend und abscheulich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

lassen Sie mich angesichts dieser Entwicklungen noch einmal betonen: Die Bundesrepublik Deutschland bleibt sich ihrer Verantwortung, die in den von den Nationalsozialisten verübten Menschheitsverbrechen begründet liegt, auch in Zukunft bewusst. Jede Bundesregierung. Wir wenden uns entschieden gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. 

Es bleibt unsere immerwährende Aufgabe und Verpflichtung, der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, die Verbrechen der Nationalsozialisten schonungslos aufzuarbeiten und die nachfolgenden Generationen über das Geschehene aufzuklären. Das ist mir nicht nur in meiner Funktion noch als Kulturstaatsministerin, sondern auch persönlich ein ganz großes Anliegen.

Als Lernorte gerade auch für junge Menschen leisten die Gedenkstätten einen wesentlichen Beitrag zur Demokratieerziehung und tragen Sorge, dass das Wissen über das Geschehene und das Schicksal der Opfer im Bewusstsein der Menschen wachgehalten und immer weitergetragen wird. Die gesamtgesellschaftliche Erinnerungskultur wird auch weiterhin gestärkt, sie wird gefördert und anschlussfähig gemacht. Es wurden viele Projekte neu initiiert, um sicherzustellen, dass die Erinnerungskultur lebendig bleibt und sowohl historische als auch zeitgenössische Themen adressieren kann. Deshalb haben wir das Bundesprogramm „Jugend erinnert“ verstetigt und modernisiert. Und zu einer lebendigen Erinnerungskultur in der und für die Einwanderungsgesellschaft, in der wir leben, gehört auch die Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen und rassistischen Taten seit 1945 und ihre Kontinuitäten.

Ich danke der Gedenkstätte Flossenbürg für ihre hervorragende und engagierte, weit über Bayern wirkende Erinnerungsarbeit. Sie gelingt dank Kooperationen mit anderen Gedenkstätten und internationalen Partnern sowie durch übergreifende Projekte. Aktuell hier in der Gedenkstätte Flossenbürg ist die Wanderausstellung „Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 bis heute“ zu sehen. Sie wurde in Kooperation mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas erarbeitet, mit Bundesmitteln gefördert und geht zurück auf einen Beschluss des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2020. Die Ausstellung erinnert an Menschen, die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Und es ist wichtig, dass wir daran erinnern. 

Außerdem wurde, wie Markus Söder schon gesagt hat, für ein KulturInvest-Projekt von uns eine wichtige Förderung in Aussicht gestellt: Die Erschließung und Umnutzung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes sowie des Steinbruch-Areals sollen neu konzipiert werden. Der Steinbruch, in dem die KZ-Insassen Zwangsarbeit leisten mussten, brutale Zwangsarbeit leisten mussten, wurde noch bis zum Jahr 2022 zur Granitgewinnung betrieben. Nach Ablauf des Pachtvertrages Ende 2024 soll er nun in die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg integriert werden. Geplant ist es, eine Konzeption von Angeboten im Bereich Virtual Reality und Augmented Reality auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Steinbruchs zu erarbeiten.

Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie kann auf Einrichtungen wie die Gedenkstätte Flossenbürg und das Engagement der Stiftung der Bayerischen Gedenkstätten mit ihrer hervorragenden und innovativen Bildungsarbeit absolut nicht verzichten. Der 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg ist deshalb ein guter Anlass, Ihnen allen dafür von ganzem Herzen zu danken.

In Gedenkstätten wie Flossenbürg erfüllt sich die Erwartung Dietrich Bonhoeffers vom guten, vom richtigen Leben. „Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit“, hat Bonhoeffer geschrieben, „und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung“. So ist es.